Text Wolfgang Faller

Wolfgang Fallers vielschichtige Sehangebote

Ein permanenter Dialog zwischen Innenwelt und Außenwelt

von Stefan Simon

 „Malen ist ein täglicher Kampf zwischen dir und dem Gemälde. Und es hat immer das letzte Wort. Es sagt dir, wann es fertig ist.“ Wolfgang Fallers Dialog zwischen dem Bild und ihm ist zunächst eine rein private Angelegenheit im geschützten Raum des Ateliers und eine überaus vertrauensvolle dazu. Im Ringen um die richtige Ausdrucksform möchte er als  Maler seinem Medium stets vertrauen können. Faller: „Die Erzählung ist doch schon überall präsent, sie muss sich doch nicht eins zu eins im Gemälde wiederfinden.“ Somit geht es vorerst einmal in den Bildwelten des Künstlers um eine Ästhetik als Ergebnis des permanenten Kampfes zwischen Figuration und Abstraktion. Ist der dialoghafte Prozess zwischen Werk und Künstler jedoch einmal  beendet und haben die Arbeiten das Atelier verlassen, wird aus der privaten durchaus eine öffentliche Angelegenheit. Fallers künstlerische Suche, das fortwährende Zwiegespräch, begleitet von Reflexion und Selbstreflexion, wird schließlich dem Betrachter übertragen.

Die Auseinandersetzung mit Fallers Bildkosmos hat wie sein komplexes Werk viele Facetten. So kann man sich den Exponaten auf unterschiedliche Art und Weise nähern. Über die verwendeten Materialien, über das Kolorit, über die Formgebung, über inhaltliche Aspekte oder über eigene Assoziationen. Natürlich sind ästhetische und formale Gegebenheiten für seine Arbeit wichtig, aber nur soweit, als sich daraus das Werk künstlerisch definiert und sich gleichzeitig als menschliche Botschaft verkündet. Darüber hinaus bleibt so viel Realismus und Deutung, dass das Erkennen die kritische Analyse der Wirklichkeit weckt. Dazu gehört das Fragmentarische in seinem Werk als einem Hinweis  auf das Unvollendbare idealer Vorstellungen in unserer technisierten Welt, ebenso der Verzicht auf das Schönheitliche zugunsten des Menschenverschnitts der Massengesellschaft.  Fallers Palette scheint beides zu sein: fremd und vertraut.

Kunst, ob sie sich nun in farbenfrohen Kopfbildern, Zugvögeln, Zeitgeistern oder Weltsichten äußert, entsteht nie im luftleeren Raum, sie bedarf stets der Vorbilder und der Impulse. Ohne Verflechtung von Künstler, Werk und Welt ist eben auch Fallers Kunst nicht zu haben. Wieviel Leben steckt nun in den Arbeiten? Betrachtet man Fallers über fünf Jahrzehnte entstandenes vielschichtiges wie umfangreiches Gesamtwerk so zeigt sich eine Charakterisierung von körperlicher Dinglichkeit im Wechsel zur imaginativen Gestaltfindung; eine Symbiose von Allgemeinen und Individuellem. Wir sehen in den Arbeiten was wir wissen, dessen wir uns erinnern. Und wir erfahren, mit welchen gestaltenden Mitteln uns Faller an den Rand der Wirklichkeit führt. So sind seine oft betitelten Werke wie sein frühes dystopisches „Trümmerland“ von 1968, die lädierte „Miss Liberty“ von 1971, der visionäre „deutsche Schäferhund am Hindukusch“ von 2010 oder die 2021 gestarteten „Piloten des Glücks“ zwar künstlerische Reflexionen auf seine ganz persönliche Lebenswelt, für die Betrachter jedoch sind die politisch und gesellschaftlich geprägten malerischen Kommentare vor allem reichhaltige Sehangebote.

Bei dem breiten Spektrum der Ausdrucksformen ist Fallers Hang zum Seriellen und die Arbeit in Zyklen, deren Auslöser in der Siebdrucktechnik zu verorten ist, unübersehbar. Auch in den steten Wiederholungen und den Variationen demonstrieren die einzelnen Werke dennoch, eigentlich gerade deshalb, Individualität und beziehen Haltung. In den „Kopfbildern“, die man als großformatige Solitäre, als übermalte Kunstpostkarten oder in seinen Tapetenbüchern findet, wird der Mensch in dieser massiven Farbigkeit zum Träger einer Position, die jeder Betrachter wie in einem Spiegel für sich selbst erschließen kann. Mit dem Zyklus „Zugvögel“ findet Fallers malerische Ausdruckskraft eine neue Form. Die Figur löst sich vom Bildträger und befreit sich in den Raum. Mit ihrer Haltung erinnern sie wirklich an Vögel. Sie stehen gleichzeitig als Metapher für den Menschen, genauer für den Künstler, der selbst wie ein Zugvogel viel herumgekommen ist und sein Werk zu den unterschiedlichsten Ausstellungsorten dieser Welt auf Reisen schickt. Das Bauprinzip gleicht jeweils einer menschlichen Figur, langgetreckt, mit erhobenen oder ausgestreckten Armen, oft wie tanzend in Bewegung. Das jeweils verwendete Grundmaterial ist immer individuell: Pinsel, Kleiderbügel, Schraubdeckel,  Kronkorken, ein altes Handy; in einem Fall bildet ein Mercedesstern den Kopf. Dazu kommt, wie könnte es bei einem Maler auch anders sein, viel Farbe. Dick und pastos aufgetragen, mitunter so viel, dass ganze Figurenteile aus purer Farbpaste modelliert sind: Hier entwickeln sich die Arbeiten des Malers ins Dreidimensionale. In einer offenbar unerschöpflichen Variationsbreite lotet er die Möglichkeiten immer wieder neu aus, die ihm sein Motiv, die menschliche Figur, eröffnet. Diesem Forscherdrang bleibt sich Faller auch bei den „Artgenossen“  treu:  Kopfskulpturen, grinsend, die Zunge herausstreckend, sich küssend, in expressiver Farbigkeit. Ihre Basis sind wiederum Fundmaterialien vorwiegend aus dem Atelier. Ein alter Pinsel wird zum langgezogenen Hals und aus Farbtuben werden Haarlocken.

Ob Skulptur oder Bild, der prozessuale Malakt selbst ist die entscheidende künstlerische Tätigkeit im Werk von Wolfgang Faller. Das kann man immer mit den eigenen Assoziationen abgleichen. Denn, so Faller: „Der Blick ist so frei wie der Geist und der freie Blick ist letztlich das, was die Malerei am Leben hält.“  Von der intensiven Farbigkeit zur Inhaltlichkeit: In den Arbeiten begegnen wir dem Drama des Menschlichen in allen seinen möglichen Spielformen derart archetypisch vorgeführt, dass unsere projektive Phantasie sich einnisten kann und die Möglichkeit des persönlichen Déjà-vu erhält, wie in den „Weltsichten“. Können die „Kopfbilder“ als Spiegelbilder der Betrachter gesehen werden, entführt der Künstler uns hier mit seiner Sicht auf die Welt in ein schillerndes Spiegelkabinett, prall gefüllt mit menschlichen Befindlichkeiten und Mosaikbausteinen aus der Alltagswelt, die sich je nach Perspektive zu einer stimmigen Erzählung zusammenfügen. Es geht um globale wie individuelle Vernetzungen, virtuelle Räume und Freunde, um Kopfrauschen und den alltäglichen Selfie-Wahn. Seine Figuren und Köpfe spiegeln in dieser dynamischen Zwischenwelt zwischen Figürlichkeit und Abstraktion die permanenten Einflüsse von außen. Gerade die vermeintlich harmlose Serie „Gestreifte“ verdeutlicht Fallers gesellschaftskritische Aussage. Die Gesichter bestehen aus Farbe, mal längs-, mal quergestreift. Inspiriert dazu haben ihn Strichcodes. Physiognomisch angedeutete Köpfe veranschaulichen gerade noch das Menschliche. Faller beschreibt eine paradoxe Situation des Informationszeitalters. Wir werden gesichtslos, obwohl uns Facebook und Co. auffordern „Gesicht zu zeigen“.  Mit den „Weltsichten“ wird die Übersättigung des Menschen mit Bildern, die mit der Digitalisierung in allen Lebensbereichen einhergeht, thematisiert. Er fordert aus dieser Not heraus eine Schule des Sehens ein, um dieser medialen Reizüberflutung zu entgehen. Mit seinen Wort-Bild-Gefügen kommt schließlich mit den Wörtern und Satzfragmenten noch eine zusätzliche mediale Komponente ins Spiel. Liefert uns Faller mit seinen aktuellen Collagen nun die Antworten auf seine künstlerische Befragungen der Zeitläufte, wie es sein „Sag es einfach“ suggeriert? Mitnichten, denn im nächsten Bild erfahren wir „Nichts ist einfach“.

So bleibt sich Wolfgang Faller auch in diesem Sujet treu. Er gibt mit seinen Kopfbildern lediglich vor, die jeweiligen Bilder entstehen im Kopf des Betrachters. Charakter und Eigensinn hat eben Ecken und Kanten. Diese ziehen sich wie ein roter Faden durchs Gesamtwerk.  Die Kompositionen, die aus verschiedenen Schichten bestehen, zeichnen sich durch Brüche aus, durch mehrfache Übermalungen und gezielt gesetzte dissonante Farbklänge. Fallers Figuren zeigen sich ungeglättet, verhalten sich widerspenstig gegenüber der schönen Form und  der perfekten Oberfläche. Der Blick wird gelenkt hinter die Hochglanzfassaden.  So sind Fallers Bildentwürfe nicht Abbilder des Sichtbaren, sondern vielmehr Gestaltungen des Ausgesparten. Sie verweisen auf Brüche, sowohl in der Wahrnehmungswirklichkeit als auch im Wahrnehmungsvermögen. Die Ansichten deuten auf Zwischenräume, die nicht abbildbar sind. Offen und zugleich auf Distanz haltend, vertraut und dennoch fremd, leer und aufgeladen, reell und fiktiv, aber niemals langweilig: es sind gerade die Ambivalenzen, die Wolfgang Fallers spannende malerische Schwebezustände mit Leben füllen.

© Stefan Simon, 1.4.2022